AMA GI MAGAZIN
TAMARA ODERMATT
6.7.2023

Essay: «Wir sind alle auf dem Weg die zu werden, die wir schon lange sind»

In der westlichen Gesellschaft ist es üblich, dass ein Ratsuchender auch einen Ratschlag bekommt. Die Grundlagen, welche ein Mensch mitbringt, die Einzigartigkeit des Einzelnen werden speziell in der Schulmedizin, aber auch in anderen gesellschaftlichen Zusammenhängen, oft nicht zu Rate gezogen. Vielmehr wird auf Beschwerden mit einem standardisierten Vorgehen reagiert, welches für jeden gleichermassen zu passen hat. Die Komplementärtherapie als Ergänzung zur Schulmedizin versucht eine Alternative zu sein, wird in der Gesellschaft aber trotzdem weitgehend als eine andere Möglichkeit zur Heilbringung gesehen. Die Haltung, dass jeder für sich selber der kompetenteste Experte ist, ist in unseren Breitengraden nicht besonders populär. Die Konsequenz davon ist, dass wir uns als Komplementärtherapeuten genauso dem Druck des Heilens ausgesetzt sehen. Wir werden als Experten angesehen, die wissen, was zu tun ist, genauso wie alle anderen, die im Gesundheitswesen tätig sind.
Ist es aber nicht eine unserer Herausforderungen als KT-Therapeuten, dass wir den Menschen wieder mit seinen Ressourcen, seiner Kreativität und seinem Wissen in Kontakt bringen - ihn dahin begleiten, wieder mehr zu dem zu werden, was er schon ist, oder was er einmal war?
In der nachfolgenden Auseinandersetzung beleuchte ich die Herausforderung, den Menschen als Individuum in seiner Selbstregulation zu unterstützen, damit er nachhaltig und aus sich selbst heraus Wohlbefinden erfahren kann.
Wir sehen uns hin und her gezogen zwischen Tun und Nicht-Tun, manipulieren und geschehen lassen. Ich will wissen, wie es in der Gesellschaft und in meinem eigenen Denken um diese Haltung steht. Was sind die Voraussetzungen, damit jemand Experte für sich sein kann, und wie unterstütze ich ihn dabei?
Was bedeutet das für mich als Therapeutin und was für meine Klientinnen und Klienten?
Neulich kam eine Frau mit einer Diskushernie zu mir in die Praxis. Neben den Schmerzen plagte sie auch eine grosse Verunsicherung, was jetzt zu tun sei. Sie holte sich bei verschiedenen Experten Rat. Der Hausarzt, der Osteopath, Bekannte, der Rückenspezialist, und nicht zuletzt auch das Internet gaben ihr eine Flut von Informationen was sie tun und lassen sollte. Jeder nach bestem Wissen und Gewissen, jeder in bester Absicht und doch zum Teil widersprüchlich. Sie kam in die Praxis einerseits mit dem Wunsch nach Linderung der Schmerzen aber auch um Klarheit zu bekommen, was sie am besten für sich tun soll.
Ein absolut legitimes, nachvollziehbares Anliegen. So gehen wir in der Regel vor, wenn wir uns mit Beschwerden konfrontiert sehen. Und wenn wir uns in der Schulmedizin nicht ausreichend wahrgenommen fühlen, oder dort keine eindeutig effektive Behandlung erfolgt, suchen wir früher oder später in der Komplementärtherapie nach Hilfe, mit dem klaren Wunsch nach Heilung. Wieso? Ein Ansatz könnte sein, dass wir seit frühester Kindheit lernen, dass jemand anderer weiss, was wir brauchen, was gut ist für uns und manchmal sogar, wie wir uns zu fühlen haben. Ich denke da an die tröstenden Worte der Mutter an ihr Kind: «ach, du musst doch nicht weinen, ist doch nur ein Kratzer» oder den gut gemeinten Rat: «nimm dich zusammen, dann schaffst du das schon». Fragen wir unsere Kinder, was sie brauchen, was ihnen jetzt guttun würde? Als Mutter weiss ich wie schnell Antworten da sind, Ratschläge, Medikamente. Die scheinen so viel effizienter als der Moment des Zuhörens, des Nachfragens und des Hinführens zum eigenen Wissen.
Kommt noch hinzu, dass ich als Mutter unbedingt beabsichtige, dass es meinen Kindern so schnell wie möglich wieder gut geht und ich auch gelernt habe, dass ich als Mutter besser weiss, was mein Kind braucht. Ich habe den Eindruck, gerade Babys wissen, was sie brauchen, auch wenn sie es nur wenig differenziert auszudrücken vermögen. Wir verlieren diesen bewussten Zugang mit jedem Monat, den wir älter werden. Wir machen Erfahrungen, was gut für uns ist. Einerseits werden mit zunehmendem Alter die Umstände, sprich die Einflüsse und Bedürfnisse komplexer. Die Abhängigkeit von unserer Umwelt bringt aber auch mit sich, dass wir unserem Empfinden bedeutend weniger Beachtung schenken, als der Einschätzung durch unsere Mitmenschen. Es sind nicht die eigenen Erfahrungen, die mich zu dem machen, was ich bin, sondern die Bewertungen von meinen Bezugspersonen.
Zurück zu meiner Klientin: ich hatte keine Ahnung, was für sie richtig sein könnte. Ich hätte jetzt unter enormen Druck kommen können. Immerhin sollte ich ihr sagen, was sie tun soll, was gut ist für sie und am besten auch den Schmerz wegzaubern. Vor noch nicht allzu langer Zeit wäre genau das passiert. Ich hätte den Anatomie- und den Akupunkturatlas konsultiert, wäre mental meinen «To-do-Katalog bei Diskushernie» durchgegangen und hätte diverse Techniken ausprobiert. Kurz, mein Möglichstes getan, um zu helfen.
Natürlich tue ich das auch heute noch. Mit einem Unterschied: Ich frage die Frau zuerst, was sie schon mitbringt. Welche Strategien hat sie, um sich selber zu helfen, welche Ressourcen sind schon da, wie kann sie diese für sich nutzen. Und dann, was sie jetzt braucht.
Meine Absicht ist es, sie als erstes darauf aufmerksam zu machen, was sie bereits an Wissen und Erfahrung mitbringt. So meisterte sie schon einen ersten Schritt zur Selbstermächtigung. Dann möchte ich sie darin unterstützen, ihre eigenen Bedürfnisse wahrzunehmen – auf mentaler, seelischer und körperlicher Ebene. Dies alleine ist nicht immer ein einfaches Unterfangen. Oftmals sogar das erklärte Ziel der gemeinsamen Arbeit. Und schliesslich geht es darum, wie sie den eigenen Bedürfnissen gerecht werden kann.
Am Ende des gemeinsamen Weges geht es darum, dass der Mensch näher bei sich und damit wieder mehr Experte für sich selber wird.
Die Frage nach dem Bedürfnis kann von Klienten durchaus als eine Provokation oder sogar als Überforderung aufgefasst werden. Ich laufe Gefahr, dass mein Gegenüber leicht entnervt findet, das zu wissen sei ja eben gerade mein Job. Noch schlimmer ist es, wenn sich die Person als unzulänglich wahrnimmt. Das möchte ich unbedingt vermeiden. Hier spielt die Tragfähigkeit der Beziehung eine wichtige Rolle. Kennen wir uns schon recht gut, kann ich abschätzen, ob ich meinem Gegenüber zumute, diese Frage für sich zu erforschen. Ist die Person noch wenig vertraut mit meiner Art zu arbeiten, lohnt es sich, gemeinsam ein Gegenstück, eine Alternative zum jetzigen Befinden auszuarbeiten. Damit wird die Wahrnehmung unterstützt, dass immer mindestens zwei verschiedene Teile gleichzeitig präsent sind, dass ein Befinden nie ausschliesslich gut oder schlecht ist. Zudem ermöglicht die Überlegung, wie man sich sonst noch fühlen kann, eine Orientierung in die Zukunft. Sie kann ihr Ziel erkennen. Von diesem Ausgangspunkt lässt sich schon viel einfacher ableiten, was die Person braucht. Wir tasten uns gemeinsam an die Antworten heran: ich stelle gezielte Fragen, die dem Gegenüber helfen, sich zu orientieren. Wichtig ist es, genug Raum zu lassen, damit die Antworten sich selber entwickeln können. Dabei sehe ich mich als Laien, die vom Funktionieren meines Gegenübers keine Ahnung hat.
Diese mentale Erforschung des Bedürfnisses ist bekanntermassen aber nur eine Ebene von dem Körper-Seele-Geist Kontinuum. Ich setze gerne dort an, weil sie die für uns die Gewohnteste ist. Sie ermöglicht Verständnis und bildet aus meiner Sicht oft den Türöffner für die seelische und körperliche Ebene. Das Erfahrene kann besser beobachtet und integriert werden.
Mit den gewonnenen Antworten bin ich als Therapeutin aber noch nicht von der Erwartung befreit, den Wunsch nach Heilung zu erfüllen. Bei meiner Klientin mit der Diskushernie bin ich vermutlich sogar nicht viel weiter, als am Anfang. Ihre Antwort auf die Frage, was sie braucht, wird lauten: ich will schmerzfrei sein oder mindestens wissen, ob ich operieren soll oder nicht.
Leider bin ich nur Therapeutin und keine Fee, die diesen Wunsch mit einem tollen Zauber erfüllen kann. Übernehme ich Verantwortung für die Bedürfnisse des Gegenübers? Ratschläge würden mich vielleicht vom Druck entlasten, indem ich der Klientin Verantwortung zurückgebe. Grundsätzlich ist Selbstverantwortung eine Voraussetzung, will man sich konstruktiv mit sich selber auseinandersetzen. Zu diesem Zeitpunkt und in dieser Form ist es aber wohl eine Überforderung. Da bin ich als Therapeutin gefordert, zu führen, ohne der Klientin die Selbstverantwortung zu entziehen.
Eine Möglichkeit, diesen Balanceakt zu meistern ist es, auf den Umstand aufmerksam zu machen und Werkzeuge anzubieten. Unter Werkzeugen verstehe ich zum Beispiel Anleitungen für mentale Übungen, wie sie in der Gestaltpsychologie häufig Anwendung finden. Die Klientin wird von mir in der Grundstruktur einer Übung angeleitet. Wie diese Übung dann ausgestaltet wird, liegt bei der Klientin. Welche Sinneskanäle bei der Imagination im Vordergrund sind, wie schnell und wie weit sie sich darauf einlässt, unter Umständen sogar in welchem Kontext die Übung Anwendung findet, liegt in der Kompetenz der Klientin. Wenn ein Angebot, wie zum Beispiel der Body Scan aus der Achtsamkeitspraxis während der Körperarbeit von mir angeleitet wird, macht die Klientin die Erfahrung, dass sie ihr Bewusstsein von ihren Schmerzen wegbewegen kann. Verschieben sich die Schmerzen in den Hintergrund, hilft ihr das festzustellen, dass es im Körper noch eine ganze Anzahl Zonen gibt, die durchaus angenehm sind. Diese rücken dann in den Vordergrund. Manchmal dient zudem die während der Sitzung aufgenommene Anleitung des Body Scans sowohl der Klientin als auch dem Partner als Einschlafhilfe.
Was ist der Unterschied zwischen Ratschlag und Werkzeug? Meiner Meinung nach liegt es am Umstand, dass die Klientin die Ausgestaltung und Anwendung der Übung entsprechend ihren Eigenheiten macht. Es wird ihr nicht vorgegeben, was sie zu sehen oder zu fühlen hat. Jede Intervention wird auf die Person und die Situation zugeschnitten. Sie exploriert sich selber mit diesen Werkzeugen und kann sich damit besser kennen lernen. Sie erfährt Selbstermächtigung, Zugang zur eigenen Kreativität und Wirksamkeit aus sich selbst heraus. Auf diese Art ist die Wirkung der Intervention nachhaltig.
Zurück zu meiner Klientin mit der Diskushernie: Das Erarbeiten des Ziels hat ergeben, dass sie sich Klarheit darüber wünscht, was zu tun ist und zudem eine Linderung ihrer Schmerzen.
Die Exploration des Körpers mit dem Body Scan dient als Werkzeug, mit dem sie selber etwas für ihr Wohlbefinden und zur Stressreduktion tun kann.
Aber wie begegne ich ihrem Wunsch weiter? Ich bin der Überzeugung, dass wir die Erinnerung und das Wissen, was uns weiterhilft, durchaus in uns haben. Manchmal haben wir verlernt, den bewussten Zugang dazu zu pflegen und den eigenen Erkenntnissen zu vertrauen. Genau das erforschen wir nun gemeinsam.
Nachdem wir nun das Ziel kennen, erarbeiten wir den Weg dorthin. Wann hat die Klientin diese angenehme Empfindung schon einmal wahrgenommen? Und was hat damals zu diesem Befinden geführt? Wo im Körper ist schon ist ein bisschen von diesem Befinden wahrnehmbar? Wir erkunden Geist und Körper nach Spuren der Erinnerung an diese Zeit.
Als Therapeutin begleite ich den Menschen auf der Suche nach dem verloren gegangenen Befinden Ich erforsche den Körper auf gut ressourcierte Teile sowie auf energetische Blockaden. Ich könnte jetzt meiner Behandlung folgen, nach allen Regeln der Kunst, mit dem Ziel ein Gleichgewicht herzustellen. Habe ich aber die Absicht, dem Gegenüber zu mehr Kontakt und Kompetenz für sich zu verhelfen, wähle ich einen etwas anderen Weg.
Als Einstieg ist es wichtig, die Berührung so zu wählen, dass sich der Mensch in seinem Bedürfnis ernst genommen fühlt. Ebenso zentral ist es, dass sich der Klient der stärksten Ressource im Körper bewusstwird. Wir finden gemeinsam den Ort, an dem sich der Körper im Moment am besten anfühlt. Dieses gute Befinden dient als Referenzort, einem Bootsanker gleich. Drohen unangenehme Empfindungen einen zu überrollen, erinnern wir uns daran zurück. Der Anker verhilft dem Bewusstsein zu erkennen, dass positiv und negativ empfundene Wahrnehmungen gleichzeitig vorhanden sein können.
Ich übernehme als Therapeutin die Führung - die Verantwortung will ich bei der Klientin belassen. Konkret heisst das, dass ich ein Berührungsangebot mache und je nach dem nachfrage, ob die Berührung hier in dieser Art stimmig ist. Die Klientin wird dazu animiert, mit ihrer bewussten Aufmerksamkeit abzuschätzen, ob es so passt oder eine andere Berührungsqualität besser wäre. Wenn ich zusätzlich frage, ob sie eine weitere Berührung an einem anderen Ort braucht, übernimmt die Klientin bereits einen Teil der Führung und ich kann sie auf ihrem Weg begleiten. Es entsteht ein Dialog, bei welchem ich manchmal die Klientin im übertragenen Sinn bei der Hand nehme und zeige, was es zu entdecken gibt, und sie wiederum bei sich erforscht, wo es langgehen kann. So tanzen wir durch den Körper, schätzen ab, ob es eine Begegnung auf der strukturellen, energetischen oder auf der Flüssigkeitsebene braucht, lauschen dem einen und gehen weiter zum nächsten, wenn das erste genährt ist. Je nach dem ist auch die Frage nach dem «wie fühlt es sich genau an» sehr gewinnbringend. Die Klientin kann erforschen, dem Wahrgenommenen Worte geben, oft sogar über verschiedene Sinneskanäle die Wahrnehmung fassbar machen. Durch diese präzisen Inputs entsteht die Verbindung zwischen der bewussten und der unbewussten Wahrnehmung und dient der Integration von Sensationen. Empfundenes wird verstanden. Diese Benennung ermöglicht auch Abstand vom Erlebten, so dass Sicherheit und das Vertrauen in sich wachsen und schliesslich mehr Empfindungen zugelassen werden können. Das Containment wird erweitert.
Zum Glück haben sich meine Hände und mein therapeutisches Bewusstsein mittlerweile darin geübt, dem Körper und dem System der Person als Ganzes zu lauschen. Dieses Lauschen ist für mich der Begriff meiner Art wie ich dem Körper begegne. Es ist eine stille, nonverbale Befragung des Körpers, was er braucht, welche Berührung in welcher Art und wie lange er sie braucht. So ist es mir möglich, energetische Ungleichgewichte wie Seen oder Berge auf einer Landkarte auszumachen. Dies hilft mir, die passenden Berührungsangebote zu machen. Das achtsame Lauschen ist die Voraussetzung, um zu merken, wann ein Bedürfnis wieder im Lot ist. Auch hier wende ich mich öfters an mein Gegenüber und frage nach, ob es gut ist, wenn wir uns einem nächsten Punkt zuwenden. Dies mache ich zum einen, damit mein Gegenüber seine Achtsamkeit trainieren kann, zum anderen zu meiner eigenen Entlastung.
Wenn es so läuft, ist das in etwa so wie wenn Indiana Jones seinen verlorenen Schatz (Wohlbefinden) beim Sonntagsspaziergang findet. Prächtig, nährend für den Klienten und für mich als Therapeutin.
Für einen solchen Sonntagsspaziergang braucht es aber bereits einen guten Kontakt des Klienten zum eigenen Sein. Auf dem Weg dahin fühlt es sich schon eher an, wie Indiana Jones auf der mitunter recht abenteuerlichen Suche nach dem verlorenen Schatz. Gerade in der Arbeit am Körper ist mit diversen Überraschungen zu rechnen.
Der Mensch ist Meister darin, Widerstände zu verpacken und schützende Systeme aufzubauen. Damit werden gelernte und über Jahre hinweg wichtig gewesene Lösungsstrategien verteidigt. Diese aufzugeben ist beängstigend. Oft hilft nicht einmal die Erkenntnis, dass das was früher eine Lösung war, nun zum Problem geworden ist. (Paul Watzlawick, John H. Weakland, Richard Fisch: Lösungen. Zur Theorie und Praxis menschlichen Wandels, 1982). Auf der Ebene des Muskel-Skelettsystems ist es relativ einfach, die Folgen einer Schonhaltung aufgrund von Schmerzen zu erkennen. War diese mal die Lösung, um dem Schmerz zu entgehen, entwickelte sie sich schliesslich selber zum Problem.
Erlebtes, ganz gleich ob körperlich oder seelisch, wird meiner Erfahrung nach in den Geweben gespeichert ähnlich wie Maiskörner. Der Körper als Experte für die Erhaltung oder Herstellung von körperlichem, seelischem und mentalem Gleichgewicht, nimmt eine Veränderung, insbesondere, wenn sie das innere Weltbild betrifft, als Bedrohung wahr. Er schützt sich und reagiert mit Ablehnung, bewegt sich nicht, verschliesst sich gar oder holt zu wilden Manövern und emotionalen Ausbrüchen aus. Bei passender Berührung, genügend Vertrauen und wenn die Zeit reif ist, ploppen die Maiskörner im Körper mehr oder weniger intensiv auf. Sie geben die gespeicherten Inhalte je nach dem in Form von Emotion und Energie frei.
Mit unbeeindruckter Anteilnahme ermögliche und begleite ich Veränderungsprozesse. Ich schätze ab, ob es der richtige Zeitpunkt ist, Mut zu machen, sich auf das Ungewohnte einzulassen und die eigenen Grenzen zu erweitern. Oder ist es nötig, inne zu halten, wieder mit dem Anker in Kontakt zu treten um das System nicht zu überfordern. Der Fokus von mir und der Klientin liegt auf der gleichzeitigen Empfindung der Ressource und dem Prozessgeschehen. Hier ist der Unterschied zu Indiana Jones: wir wollen den Weg langsam gehen und uns immer wieder dem ruhigen Anker, dem Hier und Jetzt zuwenden können. Das erlaubt uns bei der bewussten Erforschung von Sensationen, immer mehr in Kontakt zu kommen, Schritt für Schritt ein bewusstes Verständnis zu entwickeln, die eigene Empfindung zu erfahren, auszuhalten, ohne dabei Symptome zu entwickeln. Schliesslich gelingt es uns, nach und nach Zugang zu unserem ‘Expertentum’, unserem inneren Wissen, zu erlangen.
Hirnphysiologisch gesehen, entstehen unter diesen Umständen auch neue neuronale Verbindungen. Wenn Entspannung und Aktivierung gleichzeitig vorhanden sind, lernt unser Gehirn etwas Neues. Das heisst, wir erweitern unsere Reaktionsmöglichkeiten. Alternativ zu den gewohnten Reaktionsmustern, die so automatisch und so schnell wie die Fahrt auf der Autobahn ablaufen, bilden sich durch diese neuen neuronalen Verknüpfungen ganz neue, kleine Trampelpfade. Und je häufiger wir die kleinen Wege gehen, desto mehr breiten sie sich zu weiten Wegen aus, die immer etwas einfacher und schneller eingeschlagen werden können.
Der Klientin mit der Diskushernie ist bei der Wahrnehmung ihres Körpers klargeworden, unter welchem Druck sie in den letzten Monaten gestanden hat. Das Training ihrer differenzierten Selbst- und Körperwahrnehmung war die Voraussetzung, dass sie sich ihrer alten Verhaltensmuster bewusstwerden konnte, welche sie dazu gebracht haben, entgegen ihren Bedürfnissen zu handeln. Ihr Wunsch nach Klarheit hat sich erfüllt, wenn auch nicht ganz im ursprünglich erwarteten Sinn. Die Beschwerden haben sich insofern gelindert, als dass die Klientin ihnen mit mehr Verständnis und somit mit mehr Gelassenheit begegnen kann. Sie konnte ihr Verhalten anpassen und steigert somit ihre persönliche Genesungskompetenz.
Der Klient ist Experte für sich selbst. Was bedeutet das für ihn?
Er wird sich von der gewohnten konsumierenden Haltung verabschieden müssen. Die Einstellung, dass die Therapeutin Symptome wegmacht, Heilbringerin ist, hat so keinen Platz mehr. Er wird aufgefordert, sich mit sich selber auseinander zu setzen. Verantwortung für sich und sein Tun zu übernehmen. Er sieht sich mit der Herausforderung konfrontiert, den eigenen Beschränkungen mutig zu begegnen. Er wird angehalten, sich aus der Hilflosigkeit zu bewegen, aktiv und aus sich selbst heraus wirksam seine Genesung zu unterstützen.
Meine Haltung als Therapeutin ist ressourcen- und lösungsorientiert. Das bedeutet für den Klienten eine Verabschiedung von dem vielleicht liebgewonnenen weil vertrauten Verharren in der Vergangenheit. Das mag dem Klienten unbequem und anstrengend vorkommen. Wieso sollte er sich nun von gewohnten Wegen abwenden, waren diese Wege ursprünglich als Lösung gewählt worden? Worin liegt sein Gewinn, wenn er sich mit sich selber auseinandersetzt? Die «Weg-mach-Haltung» ist doch sehr praktisch. Wenn ich Kopfschmerzen habe, ist der Griff zur Tablette rasch gemacht. Und wenn es überdauernde oder unklare Beschwerden sind, hilft mir die Kräutermischung vom TCM Therapeuten oft zuverlässig. Alles was Wirkung zeigt und bestimmte Beschwerden zum Verschwinden bringt, ist ein Segen. Bei einfachen, einmaligen Symptomen, bin ich der Meinung, dass Symptombekämpfung eine gute Strategie ist.
Es liegt auf der Hand, dass es nicht wegen jedem Anliegen einen Prozess in dieser Form braucht. Aber unsere Arbeit als Komplementärtherapeutinnen ist prädestiniert dazu, dass eher Anliegen mit verstecktem Hintergrund die Menschen in unsere Praxen führen. Standardprozedere greifen nicht befriedigend. Die Realität zeigt, dass nicht nur jeder Mensch einmalig ist, sondern auch jedes Anliegen. Sogar wenn es im selben Kleid daherkommt, kann es andere Ursachen und andere Bedürfnisse hinter sich verbergen. Das alltägliche Phänomen der Kopfschmerzen zeigt das sehr gut. Es gibt unzählige Arten von Kopfschmerzen. Das, was einmal wirkte, ist das nächste Mal nicht unbedingt wirksam. Einem Menschen hilft der Besuch des Chiropraktikers, beim anderen verschlimmern sich seine Beschwerden gerade durch diesen Eingriff. Die Folge ist, dass wir von Pontius zu Pilatus, sprich von Experte zu Experte ziehen mit dem Wunsch nach Linderung der Beschwerden, und dabei allen anderen die Verantwortung für unser Wohlergehen in die Hände legen. Wir bleiben auf unserer Autobahn und realisieren gar nicht, dass uns diese nicht zur gewünschte Destination führt. Halten wir inne, betrachten wir unsere Landkarte aus der Vogelperspektive, kann das Ziel viel eher sichtbar werden. Wir können neue Wege einschlagen, und wenn sie auch unbequem und anstrengend erscheinen, erweitern sie unsere Handlungsmöglichkeiten und steigern damit unsere Freiheit.
Ein weiterer Grund, sich mit sich selber auseinander zu setzen eröffnet sich, wenn ich mich in der Rolle der Klientin sehe: es erfüllt mich mit Genugtuung und Freude, wenn ich mich als selbstwirksam wahrnehme. Herausforderungen werden weniger bedrohlich, wenn ich zum Beispiel über Werkzeuge verfüge, die ich anzuwenden weiss oder wenn ich die Erfahrung mache, dass ich bestimmte Emotionen aushalten kann, ohne überwältigt zu werden.
Ich realisiere, dass ich nachhaltige Entwicklungen machen kann, die mir in verschiedenen Lebensbereichen zu mehr Freiheit verhelfen, indem ich gelassener oder sicherer bleibe.
Eine Therapeutin mit dieser Haltung ist für mich als Klientin wie eine Komplizin. Es befreit mich als Klientin gewissermassen von der Abhängigkeit. Sie hat nicht die Funktion der unersetzlichen Heilbringerin, sondern die eines Gegenübers, die mich in der Erforschung meines Weges ernst nimmt und begleitet. Sie ermuntert mich, meine Muster und Reaktionen aus einer gewissen Distanz zu beobachten und ein Zeugenbewusstsein zu entwickeln.
Ich lerne einerseits eine Vogelperspektive einzunehmen und gleichzeitig in eine vertiefte Selbstwahrnehmung einzutauchen.
Ich habe das Vertrauen, dass die Therapeutin mich vor Überwältigung zu schützen vermag, weil wir beide meine Ressourcen kennen und sie mich bei Bedarf darauf zurückführen kann.
Und was bedeutet es für mich als Therapeutin?
Erstmal ein Umdenken.
Ich bin nicht nur als Klientin geprägt von der Haltung, dass ich mit einem Anliegen an eine Fachperson gelange und die mir mit wirksamen Inputs zur Besserung meiner Beschwerden verhilft. Auch als Psychologin und Shiatsutherapeutin habe ich gelernt, dass wir bestimmte Techniken für bestimmte Zwecke brauchen. Es wurde in der Ausbildung angestrebt, uns eine absichtslose, nicht symptomorientierte Haltung nahe zu bringen. Dies hat sich für mich immer wie ein innerer Widerspruch angefühlt. Dieser Widerspruch resultiert meiner Meinung nach aus der Tatsache, dass die Traditionelle chinesische Medizin einem anderen gesellschaftlichen Hintergrund entspringt, als wir ihn hier im Westen pflegen. Ein chinesischer Arzt wurde bezahlt, wenn sein Klient gesund blieb. Seine Interventionen sind darauf ausgerichtet, Ungleichgewichten zu begegnen, bevor Symptome entstanden. Also auf der Salutogenese aufbauend und ressourcenorientiert. In unserem Verständnis bezeichnen wir das im besten Fall präventiv – oft auch leicht despektierlich als Wellness. So oder so, von den Krankenkassen wird diese Behandlung nicht übernommen. Abgesehen davon, kommen die Menschen auch selten in Behandlung, wenn sie keine Symptome aufweisen.
Ich bewege mich als KT-Therapeutin mit einer auf die TCM basierenden Methode in einem widersprüchlichen Umfeld.
Ich soll soweit Einfluss nehmen, dass nachhaltige Veränderungen erfolgen und dabei absichtslos sein. Wir dürfen keine Heilversprechen machen, es wird aber doch eine Heilung erwartet. Nicht nur vom Klienten wird Heilung erwartet. Auch der Krankenversicherung sind wir Rechenschaft über den erfolgreichen Verlauf der Behandlung schuldig. Die ganze Fokussierung ist nicht auf die Erhaltung von Gesundheit ausgerichtet, sondern auf die Pathogenese. Eine Besserung ist synonym mit der Reduktion der pathogenen Faktoren. Die Versuchung, für bestimmte Beschwerden auch bestimmte Behandlungsabläufe zu generieren, blieb bei mir ungebrochen. Den Apell absichtslos zu sein, versuchte ich zu überhören, um nicht ständig mit diesem Widerspruch konfrontiert zu sein. Ganz genauso wie in der Schulmedizin versuchte ich für jedes Anliegen das passende Standardprozedere zu haben. Das versprach mir Sicherheit, Kompetenz und Orientierung in der komplexen Landschaft des menschlichen Seins. Jahrelang habe ich versucht, präziser zu werden, mehr zu wissen, bessere Techniken zu lernen. Ein Fass ohne Boden tat sich auf. Will ich dem Menschen so begegnen, strotze ich entweder vor Selbstbewusstsein und bin ein Genie oder zur ewigen Selbstzweiflerin verurteilt. Jedenfalls scheint es mir nicht möglich, irgendwann anzukommen an dem Ort, wo ich mich zurücklehnen und zufrieden auf meine therapeutische Kompetenz blicken kann.
Dieses ständige Gefühl der Unzulänglichkeit gepaart mit dem Anspruch, für jedes Anliegen die passende Strategie zu kennen, löste bei mir Druck und nach und nach auch Lustlosigkeit aus. Obwohl die Freude an der Begegnung und Berührung stets da war, wünschte ich mir immer öfter einen möglichst banalen Beruf ohne Verantwortung.
In den letzten Jahren durfte ich verschiedene Erfahrungen machen, sei es mit Shiatsubehandlungen, Somatic Experience, mit Achtsamkeitstraining, Meditation, Danced Bodywork oder Craniosakraltherapie. Dank all diesen Erlebnissen erlangte ich nach und nach Zugang zur Weisheit meines eigenen Körpers.
Ich machte die Erfahrung, wie sehr sich Dinge, insbesondere im Menschen inne liegende Eigenheiten verändern können, wenn man sie einfach nur beachtet, ihnen lauscht und sie begleitet in ihren Bedürfnissen. Immer vom inneren Wissen, von den Ressourcen des Menschen ausgehend. Ich bin überrascht, wie viel sich bewegt im vermeintlichen Nichtstun. Hier hat der Begriff Absichtslosigkeit seine Bedeutung gewonnen.
Diese ressourcenorientierte Art der Arbeit erscheint mir als Auflösung des Widerspruchs. Ich befreie mich vom Druck, Heilbringerin zu sein und werde gleichzeitig dem TCM Anspruch der absichtslosen Aufrechterhaltung der Gesundheit gerechter.
Zugegebenermassen braucht es einiges an Geduld und Mut, einfach zu sein, zu lauschen und den Körper in seinem Prozess zu begleiten. Eigene Denkmuster machen es nicht einfach, dieses Vertrauen in den Prozess zu halten. Schliesslich sieht es nicht nach viel aus was man macht. Etwas TUN bleibt einfacher, als zu sein. Und genau so, wie ich das Vertrauen in mein Sein und in die Weisheit des Gegenübers am Aufbauen bin, muss ich diese Gelegenheit auch dem Klienten ermöglichen. Sind die Klienten mit sich noch nicht in dem Masse in Kontakt, dass sie die Bewegungen und Veränderungen wahrnehmen können, braucht es vielleicht neben der verbalen Anleitung auch erst noch etwas handfestere Berührungen, mehr klare Manipulationen am Körper, damit sie ihre Aufmerksamkeit auf das Geschehen lenken können.
Schlussreflexion
Für alle Anliegen gibt es Andere, die wissen, was zu tun ist. In meinen Ausbildungen habe ich gelernt, zu «Tun», Symptome weg zu machen. Vielleicht auch noch, nach Ursachen zu suchen. Je mehr wir tun, desto vertrauenswürdiger, desto besser. Ganz der schweizerischen Mentalität entsprechend: wer nichts tut, ist faul und nur wer viel tut, ist gut.
Diese Haltung verspricht wenig Wachstum auf Seiten des Klienten und ein enormer Druck auf Therapeutenseite.
Wenn wir nicht «Tun», bedarf das rasch einer Rechtfertigung. Es erfordert viel Mut, Gelassenheit und Vertrauen von mir als Therapeutin, wenn ich mich auf diesen Weg begebe. Dafür ermöglichen wir unserem Gegenüber, sich selber zu entdecken, zu erfahren und mit sich in Kontakt zu kommen. Die für den Moment angemessenen Veränderungen geschehen fast wie von selbst. Ich bin immer wieder berührt und erstaunt ob den Veränderungen, die der Mensch ganz aus sich selbst heraus vollbringen kann. Allein meine und seine Präsenz dienen als Katalysator für neue Wege.
„Auf einmal war es ihm klar, dass die Suche der einzige Grund des bisherigen Nichtfindens gewesen war; dass man da draußen in der Welt nicht finden und daher nie haben kann, was man immer schon ist.“ Paul Watzlawick
In dem Sinne tun wir das Beste für unser Gegenüber, wenn wir «nichts tun» und stattdessen dem Menschen in all seinen Facetten zuhören und ihn als Experten betrachten. Als Experte, der eigentlich schon lange ist, auf dessen Weg zu werden er sich befindet.
Für mich als Therapeutin bedeutet das Entlastung. Entlastung vom Widerspruch Beschwerden behandeln zu müssen. Es erlaubt mir stattdessen, den Beschwerden erforschend zu begegnen. Mein Gegenüber und ich haben den Fokus darauf, dass durch unsere aktive Präsenz Körper, Seele und Geist erfahrbar werden. Mit Erfahrbarkeit werden sie auch beeinflussbar. Der Mensch wird in seiner Gesundheitskompetenz bestärkt indem er sowohl über Werkzeuge zur Unterstützung verfügt, als auch auf die Weisheit des Körpers zu vertrauen lernt.
Tamara Odermatt, Mai 2016

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